Zeitreise

Nun war ich auch einmal über Weihnachten krank und weiß jetzt wie das ist: nicht halb so schlimm, wie man sich das als Kind immer vorstellt.

Beim Durchforsten meines Rechners habe ich eine alte Kurzgeschichte gefunden, die ich im zarten Alter von 16 Jahren geschrieben habe, verzeit daher, wenn sie zwischendurch etwas kitschig wirkt 😉

Zeitreise

Lisa hat einen großen Wunsch. Sie wünschte sich, sie wäre nie auf die Welt gekommen. Gut, dieser Spruch klingt genauso wie die anderen Sprüche die man so dahin sagt: „Ich möchte auf der Stelle im Erdboden versinken!“, oder „Ich möchte auf der Stelle tot umfallen …“
Aber Lisa meint es wirklich ernst und es geht ihr dabei nicht darum einfach nur ihr Leben zu beenden, denn das hätte sie vermutlich schon längst getan. Aber so einfach ist es ihrer Meinung nach nicht. Denn Lisa ist davon überzeugt, dass ihre Geburt nur schlechtes mit sich gebracht hat. Ihre Mutter ist nach ihrer Geburt gestorben und ihr Vater hasst sie dafür. Ja, es ist wirklich so. Denn Lisa hat ihrer Mutter schon während der Schwangerschaft große Schmerzen bereitet. Ihr leiblicher Vater selbst wünschte sich, dass sie nie auf die Welt gekommen wäre, denn dann würde er noch heute glücklich mit seiner Frau leben.
Kurz nach Lisas 10. Geburtstag heiratete er wieder. Eine Frau die bereits Kinder hatte. Thomas und die kleine Erika. Lisa und Thomas gingen auf die selbe Schule. Doch eines Tages gerieten sieauf dem Schulweg in Streit und Lisa wurde dabei so wütend, dass sie Thomas auf die Straße schubste. Er wurde von einem Auto angefahren und schlug mit dem Kopf auf dem Bordstein auf.
Lisa hatte deswegen schwere Schuldgefühle.
Und ihre Stiefmutter, auf die der Hass ihres Vaters ohnehin schon abgefärbt hatte, hasste sie nun ebenso. Und aus Angst, dass Lisa nun auch der kleinen Erika etwas antun würde, durfte sie ihr auf 5 m Entfernung nicht zu nahe kommen. Das war in einem kleinen Häuschen schon schwer genug, aber Erika wollte aus irgendeinem Grund immer mit ihr spielen. Vielleicht hatte sie auch nur Freude daran, Lisa etwas auszuwischen, denn sie wird für so ziemlich alles verantwortlich gemacht, was mit Erika in ihrer Nähe passierte.
Natürlich war Lisa auch in der Schule alles andere als eine große Leuchte. Niemand glaubte daran, dass sie weiter als bis zur Hauptschule käme und ob sie selbst das schaffte, wagte man oft zu bezweifeln. Allerdings gab es da in der Grundschule eine Lehrerin, die wirklich versucht hat, herauszufinden, weshalb Lisas Leistungen so schlecht waren, weshalb Lisa nur ungenügend Hausaufgaben machte. Schließlich versuchte sie sich auch im Gespräch mit ihrem Vater, aber auch dort scheiterte ihr Idealismus. So akzeptierte auch sie, dass Lisa es nie zu irgendetwas bringen würde.
Lisa weiß, dass sie von ihrer Familie gehasst wird. Scheinbar muss man sie einfach hassen, sie kannte es nicht anders. So fügte sie sich auch im Laufe ihrer Schulzeit in die Opferrolle und somit allen Schikanen, die ihre Mitschüler für sie bereit hielten.
Mittlerweile ist Lisa 14 Jahre und sie hat genug davon. Wenn sie einen Weg fände, ihre Geburt, ja sogar ihre Zeugung, verhindern, würde sie es tun. Tag für Tag betete sie dafür, dass irgendwann einmal der Moment kommen würde. Jedes Jahr schrieb sie einen Wunschzettel, an den Weihnachtsmann, dass er ihr diesen Wunsch erfüllen möge.

Und eines Nachts wurde Lisa von einem kleinen hellgrünen Licht geweckt. Halb schlafend rieb sie sich die Augen und wollte sich dieses Licht näher ansehen. Dieses Licht entpuppte sich als kleines, schwarzes Männchen mit hellgrünen Flügeln.
„Guten Morgen Lisa!“, begrüßte es sie.
„Wer bist du?“, fragte Lisa erschrocken.
„Ich bin ein Elf!“, antwortete dieser lächelnd. „Ich bin gekommen, weil du etwas auf dem Herzen hast.“
Lisa hatte in diesem Augenblick natürlich keine Ahnung wovon dieser Elf sprach. Doch dann holte er einen kleinen Zettel hervor und las daraus: „Lieber Weihnachtsmann! Ich wünschte ich wäre nie geboren worden. Das ist mein einziger Wunsch. Wie jedes Jahr. Liebe Grüße Lisa!“ Er steckte den Zettel wieder weg. „Wir bekommen selten Wunschzettel von Kindern deines Alters, weißt du!“
„Ich bin kein Kind mehr!“, antwortete Lisa trocken.
„Natürlich nicht“, antwortete der Elf hastig.
„Bist du gekommen um mir meinen Wunsch zu erfüllen?“, fragte Lisa vorsichtig und ihr Herz klopfte schneller.
„Nein, nicht direkt!“
„Was willst du dann hier?“
„Ich will dir zeigen, was passiert, wenn du nicht auf die Welt gekommen wärst …“, erklärte der Elf.
„Das brauchst du nicht. Ich bin unerwünscht auf diesem Planeten.“
„Warum bringst du dich dann nicht einfach um?“
„Weil das nichts bringen würde. Meine Mutter wäre trotzdem tot, Thomas auch, lediglich mein Vater und meine Stiefmutter wäre erleichtert!“
„Und du meinst, dass alles besser wäre, wenn du nicht auf die Welt gekommen wärst?“, bohrte der Elf nach.
„Ja!“
„Na, das wollen wir doch mal sehen“, grinste der Elf und plötzlich verschwand er wieder in diesem grünen Licht, dass nur noch heller wurde und irgendwann auch Lisa verschluckte …

Das Licht verschwand und Lisa befand sich in ihrem Zimmer. Nun, es war nicht wirklich ihr Zimmer, schließlich war es mit anderen Möbeln versehen. Neue Möbel. Der der dieses Zimmer bewohnte, musste bestimmt nicht irgendwelche abgenutzten Sachen die von der Caritas zu Billigpreisen nahezu verschenkt werden. Und es bewohnte auch wirklich jemand das Zimmer. Ein Mädchen, etwas jünger, als es Lisa war.
„Wer ist das?“, fragte Lisa.
„Das ist Sylvia, die Adoptivtochter deiner Eltern. Wie du siehst, haben sie selbst keine Kinder bekommen.“
„Mutter lebt?“
„Naja, da sie ja kein Kind auf die Welt gebracht hat, musste sie auch nicht sterben …“, wollte der Elf erklären.
„Wo ist sie? Ich will sie sehen!“, rief Lisa und war auch schon aus dem Zimmer gestürmt. Glücklicherweise befanden sie sich noch in dem selben Häuschen, so hatte sie das Elternschlafzimmer ratzfatz gefunden. Sie öffnete die Tür und schlich hinein. Sie konnte sie atmen hören. Lisa schlug das Herz vor Aufregung …
Als sie vor dem Ehebett stand, konnte sie sie sehen. Ihren Vater und ihre Mutter, nackt, eng aneinander gekuschelt. Sie sahen so friedlich aus, glücklich.
Bei dem Anblick füllten sich Lisas Augen wie Tränen. Sie hatte ihre Mutter bisher nur auf Fotos gesehen. Sie hätte gerne erlebt, wie glücklich ihre Mutter gewesen wäre. Aber wenn der Elf ihr wirklich den Wunsch erfüllen würde, würde sie sie trotzdem nicht kennen lernen.
Sie spürte den kleinen Elf auf ihrer Schulter Platz nehmen. „Siehst du. Sie sind glücklich. Selbst meinen Vater habe ich auch nie so glücklich gesehen, selbst als er noch einmal geheiratet hat.“
„Ähm … gehen wir doch mal ins Wohnzimmer …“, meinte der Elf schließlich. Lisa warf noch einen letzten Blick auf ihre Eltern, auf ihre entspannten und glücklichen Gesichter und folgte ihm schließlich. Wenn sie den Elfen davon überzeugen konnte, würde ihre Mutter wirklich so bleiben und das Bild würde nicht nur eine Fiktion bleiben.
Sie ging die Treppe hinunter und ins Wohnzimmer. Lisa staunte nicht schlecht, als sie die tollen Möbel saß. Dann fiel es ihr wie Schuppen vor die Augen. Da Lisa nie auf die Welt gekommen war, konnte ihre Mutter ihr Studium beenden und arbeiten und damit auch entsprechend zum Einkommen der Familie beitragen. Auch ihr Vater konnte seine Ausbildung abschließen und musste sich und Lisa nicht mit Teilzeitjobs über Wasser halten. Sogar ein Kamin konnte eingebaut werden. Und darüber hing ein Bild, der dreiköpfigen Familie. Ihre Mutter, ihr Vater und Sylvia. Alle drei strahlten in ihrem Glück.
„Tja, wie du siehst, scheint es meiner Familie gut zu gehen“, sagte Lisa siegessicher. „Und das, weil ich nicht auf die Welt gekommen ist.“
„Das mag sein. Aber deine Mutter war sehr betrübt, als man ihr sagte, sie dürfe keine Kinder bekommen. Und ist es immer noch.“
„Dafür sieht sie aber sehr glücklich aus. Außerdem konnte sie einem anderen Kind ein schönes zu Hause bieten. Sagt der Weihnachtsmann nicht auch, dass man Gutes tun soll?“
Nun kam der Elf wirklich in Erklärungsnot. „Willst du denn nicht wissen wie es deinen Stiefgeschwistern jetzt geht? Schließlich konnte deine Stiefmutter deinen Vater nicht heiraten …“
„Ich glaube, das hat sie bereut, nachdem ich Thomas umgebracht habe …“
„Du hast ihn nicht umgebracht. Das war ein Versehen …“
„Das sah meine Stiefmutter aber ganz anders. Außerdem habe ich ihn vors Auto geschubst. ICH BIN SCHULD!“
Doch der Elf begann wieder in seinem grünen Licht zu erleuchten und als es auch vor Lisas Augen hellgrün wurde befanden sie sich in einer fremden Wohnung, die Lisa noch nie in ihrem Leben gesehen hatte.
„Wo sind wir hier?“, fragte Lisa.
„Das ist die Wohnung deiner Stiefmutter. Besser gesagt, die Frau, die deiner Stiefmutter geworden wäre, wenn du auf die Welt gekommen wärst.“
Lisa sah sich um. „Schicke Wohnung …“
„Naja, sie kann sich nicht ganz so viel leisten wie deine Eltern …“, meinte der Elf.
„Du wirst doch wohl nicht glauben, dass mich DAS umstimmen wird.“
„Sie hat einen Freund der sehr leicht handgreiflich wird. Deswegen musste man ihr ihre Kinder wegnehmen.“
„Aber sie leben beide noch, oder?“
„Ja, aber sie hat sie gleich beide verloren.“
„Das hat sie sich nun wirklich selbst zuzuschreiben. Wenn sie zulässt, dass er ihre Kinder schlägt, hat sie es nicht anders verdient. Und ihre Kinder wären selbst in einem Heim besser aufgehoben als hier, meinst du nicht?“
„Aber zumindest Erika hätte eine Familie, wenn dein Vater deine Stiefmutter geheiratet hätte …“
„Erika ist noch jung, sie hat noch eine Chance auf eine Familie. Außerdem warum soll ich mich um das Leben eines Mädchens sorgen, dass mich im Falle meiner Geburt nur piesacken würde und den Hass meines Vaters nur zu gerne ausnutzt.“
Der Elf seufzte. Doch dann schien ihm etwas eingefallen zu sein … „Wollen wir doch mal sehen, was deine Mitschüler so treiben.“
Es wurde wieder grün und im selben Augenblick befanden sie sich auf dem Schulhof, nicht in der Nacht, wie es zuvor war sondern am helllichten Vormittag, in der großen Pause. Und die Schüler spielten, aßen ihre Pausenbrote und ein kleines Grüppchen schubste einen kleinen Jungen umher.
„Hey, das ist ja Kevin …“, fiel Lisa auf.
„Ja, da du ja nicht geboren wurdest, wird er nun von deinen Schulkameraden geärgert.“
„Er ist ein Streber und eine Petze. Er hat meine Position in der Schule sehr gerne ausgenutzt. Er war nur froh, dass er nicht der Prügelknabe war.“ Lisa verschränkte die Arme und sah den Elf fordernd an. „Willst du mir nun noch etwas zeigen? Und wirst du mir meinen Wunsch nun erfüllen?“ Es wäre gemein von diesem Elfen, wenn er ihr gezeigt hätte, wie glücklich ihr Umfeld ohne sie wäre und sie dann nicht aus dieser Welt entfernen würde.

Der Elf begann zu grübeln. Das war ein harter Brocken. Wer hätte gedacht, dass ein Leben tatsächlich widrige Umstände erfordern würden. Und dass Lisa noch nicht einmal gewillt ist, selbst dann ein glückliches Leben zu führen wenn sie erst einmal erwachsen wäre. Doch dann fiel ihm ein, wie berührt Lisa war, als sie ihre Mutter sah. Vielleicht sollte er seinen letzten Trumpf ausspielen, wenn es auch sehr riskant war, so stur wie Lisa war … Aber ein Versuch wäre es wert …
„Nun, etwas will ich dir noch zeigen … und ich bin sicher, dass dich das umstimmen wird …“
„Na, da bin ich mal gespannt“, meinte Lisa gereizt.
Abermals wurde es ihr grün vor Augen und sie befanden sich wieder in einer anderen Wohnung. Dem Stil der Einrichtung nach, sogar in einer ganz anderen Zeit.
„Wo sind wir?“ fragte Lisa.
„In der Wohnung deiner Eltern …“
„Wohnen sie nicht in unserem Haus?“
„Bevor deine Mutter schwanger wurde, haben sie sich eine kleine Bude geteilt. Aber sieh selbst …“
Und tatsächlich, jemand öffnete die Tür, ihre Mutter kam herein. Genauso jung und hübsch, wie sie sie von den Fotos kannte.
„Schatz! Schatz!“, rief sie und strahlte dabei.
„Was ist?“
„Ich bin schwanger!“
Überglücklich nahm ihr Vater sie in die Arme und hob sie hoch.
Sie sahen noch glücklicher aus, als 14 Jahre später in ihrem Ehebett.
„Siehst du wie glücklich sie sind?“, fragte der Elf. „Möchtest du ihnen dieses Glück wirklich nehmen?“
„Dafür sind sie ein anderes Mal glücklich.“
„Aber ist ein wirklich glücklicher Moment nicht mehr wert, als alle weniger schönen Dinge im ganzen restlichen Leben. Würdest du nicht auch alles für einen glücklichen Augenblick in deinem Leben opfern? …. LISA NEIN!!!“
Doch zu spät, Lisa stürmte auf ihre Eltern zu, riss sie auseinander und schubste ihre Mutter weg. Ihre Mutter konnte sie nicht sehen und wusste somit auch nicht wie ihr geschah. Aber sie spürte jeden Tritt den ihr Lisa in ihren Bauch verpasste. Lisa war in einer absoluten Raserei, sie trat einfach weiter. Ihr war es egal, wie sehr sie ihrer Mutter weh tat, sie wusste, sie würde den Rest ihres Lebens glücklich sein.
Lisa hörte erst auf, als sie sah, dass ihre Mutter blutete. Zwischen den Beinen. Ihr Werk war vollbracht. Sie spürte wie sie sich auflöste. Trotzdem konnte sie noch die Schreie ihrer Mutter hören, während sie aus dieser Welt verschwand … Sich in kleine Lichtfunken auflöste, die so schnell verschwanden, dass man sie gar nicht hätte sehen können.

Lisas Mutter erlitt eine Fehlgeburt und brachte sie nie zur Welt. Sie konnte nach diesem Vorfall, der ihr bis an ihr Lebensende ein Rätsel gewesen ist, auch keine Kinder mehr auf die Welt bringen. So entschloss sie sich mit ihrem Mann, ein Kind zu adoptieren, wenn sie beide ihre Ausbildung beendet hatten und einen guten Stand im Leben hatten.
Alles geschah, wie es der Elf Lisa gezeigt hatte.

Der Elf selbst wurde aus dem Reich des Weihnachtsmannes verbannt, weil er seinen Auftrag, Lisa von ihrem Wunsch abzubringen nicht überreden konnte und weil er dazu beigetragen hat, dass das Raum-Zeit-Kontinuum durcheinander gebracht wurde.