Kein (richtiges) Abitur

Um es von vornherein klarzustellen: Wer mit falschen Angaben über seine Person oder seinen Lebensweg andere täuscht und sich damit Vorteile welcher Art auch immer verschafft, hat die entsprechenden Konsequenzen dafür zu tragen.

Was mich an der Berichterstattung über den Fall Petra Hinz allerdings stört, ist die Aussage, sie hätte kein Abitur. Sie besitzt die Fachhochschulreife, auch bekannt als Fachabitur. Selbstverständlich kann man nun dagegenhalten, dass mit Abitur nun mal das Abitur, also die allgemeine Hochschulreife, gemeint ist. Allerdings impliziert die Aussage „kein Abitur“ meiner Meinung nach: „gar keine“ Hochschulreife.

Warum ich es hier so genau nehme? Weil solche Aussagen elitär sind und suggerieren, das allgemeine Abitur sei die einzige Hochschulzugangsberechtigung, die zählt. Weil sie alle anderen Wege akademischer Bildung unsichtbar machen. Ich habe selbst am eigenen Leib erfahren, wie meine Leistungen aus 12 Jahren Schule mit zwei Schulabschlüssen entwertet wurden, weil eben kein „richtiges“ Abitur dabei herauskam. Dies ist einer der Gründe, weshalb ich viel zu lange gezögert habe, ehe ich mich an einer Hochschule einschrieb.

Heutzutage ist der klassische Weg über das Gymnasium nicht mehr der einzige Weg der zum Studium führt. Und ja, es gibt klare Unterschiede zwischen den Zugangswegen. Die allgemeine Hochschulreife, sowie die allgemeine Fachhochschulreife sind als Schulabschluss ganz klar definiert. Wo ist das Problem diese auch ganz klar zu benennen? „Weder hat sie ein Jurastudium absolviert, noch hat sie das dafür notwendige allgemeine Abitur.“ Wäre das denn wirklich so umständlich?

Und wenn es schon schwer fällt, alle anderen „Hochschulreifen“ neben dem klassischen Abitur als solche anzuerkennen, wie sehen wir dann erst alle anderen Schulabschlüsse? Wir müssen uns nicht wundern, wenn Eltern ihre Kinder, komme was wolle, durchs Gymnasium zerren, weil es die einzige Chance zu sein scheint, dass aus ihnen „was“ wird. Genauso wie wir nicht erwarten können, dass Hauptschüler*innen das Beste aus sich herausholen, wenn man ihnen vermittelt, dass sie bereits versagt haben. Oder wenn sich Studierende keine Zeit mehr zum Studieren nehmen, weil sie zu sehr damit beschäftigt sind, ihren Abschluss zu machen – innerhalb der Regelstudienzeit. Ganz zu schweigen von den Menschen, die sich von der Gesellschaft abwenden, weil sie sich abgehängt fühlen.

Wir sollten den Fall Hinz zum Anlass nehmen, unser Verhältnis zu Bildungsabschlüssen und geradlinigen Lebensläufen zu überdenken. Denn Petra Hinz hat nicht nur falsche Angaben über ihre Abschlüsse gemacht, sie hat ihren Lebenslauf an den üblichen Lebensläufen vieler anderer Politiker*innen angepasst. Wir beklagen immer wieder, dass diejenigen die Politik machen und die Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft mitgestalten, keine Ahnung vom wahren Leben haben. Gleichzeitig ist der Weg nach „oben“ noch immer überwiegend denen vorbehalten, die sich einen geradlinigen Lebenslauf leisten können. Und als die offene Gesellschaft, die wir sein wollen, müssen wir uns fragen, ob dies in unserem Sinne ist.