Erste Hilfe ist nicht sexy

Mit knapp bekleideten Frauen kann man einfach alles bewerben, sogar Erste Hilfe:

Zumindest über zu wenig Aufmerksamkeit kann sich der Arbeiter Samariter Bund nicht beschweren. Leicht bekleidete Frauen singen und tanzen in seinem neuen Werbeclip und stellen in lasziven Posen Erste Hilfe Maßnahmen dar. Alles natürlich mit einem Augenzwinkern, denn das mit den knappen Outfits und sexy Tänzen ist natürlich nur Spaß und wie immer nicht sexistisch gemeint. Und das bisschen nackte Haut, das ist doch heutzutage kein Sexismus mehr. Es gibt genügend Frauen, die sich von diesem Spot nicht diskriminiert fühlen. Sex sells nunmal. Außerdem geht’s doch um ’ne wichtige Sache, da muss man es doch nun wirklich nicht so genau nehmen. Gerade weil das Thema ohnehin viel zu wenig Aufmerksamkeit in der Gesellschaft bekommt.

Worum ging es eigentlich nochmal in dem Clip?

Und hier sehe ich ein ganz großes Problem: Das Video und wie es gemacht wurde, bekommt eine ganze Menge Aufmerksamkeit und wird nicht zu Unrecht kontrovers diskutiert. Das eigentliche Thema verblasst daneben regelrecht. Was hilft es, wenn Erste-Hilfe-Maßnahmen zu Popsongs besungen werden, wenn die Botschaften nicht hängen bleiben, weil die Liedtexte nicht eingängig sind und weil gerade die Darsteller*innen von ihnen ablenken? Somit wurde das Video zu einem Eyecatcher, der von seinem eigentlichen Thema ablenkt.

Und Erste Hilfe ist ja nun wichtig genug, dass man sie gar nicht erst „sexy“ machen muss. Im schlimmsten Fall geht es bei Erster Hilfe um Leben und Tod, das ist nicht nur nicht sexy, sondern oftmals auch sehr unappetitlich. Schon mal gesehen, wie ein Mensch an seinem Erbrochenen erstickt? Oder von der Schnappatmung der Partner*in aus dem Schlaf gerissen worden? Oder wenn ein Elternteil auf einer Familienfeier schlagartig mit stärksten Brustschmerzen und Luftnot zu kämpfen hat?

Und ja, die Leute beschäftigen sich viel zu wenig mit Erster Hilfe. Die Mehrheit der Bevölkerung hatte ihren letzten Erste-Hilfe-Kurs zuletzt während der Vorbereitung auf den Führerschein. Und selbst der wird nur gemacht, weil er vorgeschrieben ist. Und gerade in Großstädten ist es immer weniger notwendig den Führerschein zu machen. Heutzutage ist man ja schon froh, wenn überhaupt der Notruf gewählt wird oder wenn Ersthelfer*innen vor Ort in Ruhe gelassen werden. Ich hatte vor ein paar Jahren das Vergnügen, in einer Diskothek eine stark blutende Schnittwunde zu versorgen. Bevor ich kam, standen schon einige Leute etwas ratlos um den Typen, die wurden aber alle sehr schnell zu Notfallexpert*innen, als ich die Erstversorgung übernahm. Bis der Rettungsdienst (der übrigens erst von mir verständigt werden musste) kam, wurde ich belagert mit Ratschlägen und Grundsatzdiskussionen, ob ich überhaupt wüsste, was ich täte.

Diese Geschichte ist natürlich ein Witz, im Vergleich zu dem was Rettungskräfte heutzutage während ihrer Einsätze mitmachen müssen. Sei es, dass sie im Straßenverkehr ausgebremst oder auf Großveranstaltungen beleidigt und angegriffen werden. Das Thema Notfallversorgung in Deutschland hat viele Baustellen und die Bevölkerung muss auch für sie sensibilisiert werden, denn jede Minute kann über Leben und Tod und Folgeschäden entscheiden.

Ob der Clip dazu motivieren wird, sich für einen nicht verpflichtenden und oft auch kostenpflichtigen Kurs in der Freizeit anzumelden? Ich hab da so meine Zweifel. Und selbst wenn: ist es hier wirklich so notwendig, Frauenkörper als Mittel zum Zweck zu gebrauchen? Und was sagt das über unsere Gesellschaft aus, wenn lebensnotwendige Themen nur durch „Sex sells“ Aufmerksamkeit bekommen können?

Sex sells. Das ist unsere Rechtfertigung für alles. Jede Industrie ist Sexindustrie

Ariel Levy

Postcolognalismus

Samstag Abend, nach der Spätschicht. Ich wartete wie andere auf die nächste Bahn nach Hause. Unweit von mir standen zwei Men of Color*, die sich lebhaft unterhielten. Dann drehte sich einer von beiden zu mir und machte einen Witz über die Kölner Bahnen. Ich war ein wenig irritiert, allerdings nur weil ich in Köln relativ selten von Fremden angesprochen werde und so lustig war der Spruch auch nicht, aber ich lächelte höflich. Plötzlich werde ich von der anderen Seite von einem Mann mittleren Alters angesprochen: „Belästigen dich die beiden?“ Von einer Sekunde auf die andere wurde es eisig um uns herum. Ich sage „Nein.“ Nach kurzem Zögern,  blickte er wieder nach vorn und wartete auf seine Bahn. Die beiden Männer sprachen nicht mehr mit mir.

Gut, die Silvesternacht ist noch nicht so lange her und deswegen ist es nicht verwunderlich, wenn die Leute nun in Sachen Belästigung und Übergriffen genauer hinsehen. Und eigentlich ist es ja auch wünschenswert, dass in der Öffentlichkeit Belästigung nicht mit einer harmlosen Flirterei verwechselt wird und endlich auch dafür sensibilisiert ist. Und zwar unabhängig von der Hautfarbe der Beteiligten. In diesem Fall blieb ich allerdings etwas ängstlich und ratlos: Hätte der Mann ebenso besorgt nachgefragt, wenn die beiden Männer weiß gewesen wären? Oder wenn ich selbst eine Person of Color wäre? Erleben nicht-weiße Männer solche Situationen zur Zeit öfter?

Ich muss unweigerlich an frühere Situationen denken. An diesen betrunkenen (weißen) Mann zum Beispiel, der mich über ein ganzes Stück in der Stadt verfolgte und mich gerne „wohin mitnehmen“ wollte. Ich vertrieb ihn, nachdem ich ihn aggressiv von mir weg an eine Häuserwand schob – etwas, was ich mich wohl nicht getraut hätte, wäre er nicht sehr betrunken gewesen, wäre es nicht heller Tag gewesen und wären nicht gerade einige Leute unterwegs gewesen. Zuvor weichte ich ihm mehrfach aus, wenn er versuchte seinen Arm um mich legen oder mich zu ihm zu ziehen, von den Leuten die uns entgegen kamen oder unseren Weg kreuzten reagierte niemand. Aber einige hoben die Köpfe, als mich der Typ nach meiner Abwehraktion laut beschimpfte. Ob die Leute wenigstens jetzt nach Silvester in Köln reagieren würden? Wenigstens einmal besorgt nachfragen? Auch bei Deutschen?

Mein Radiowecker weckte mich mit der Nachricht, dass Ausländer in der Innenstadt angegriffen wurden. Und seitdem habe ich Angst davor, dass wir uns mittlerweile in einer Spirale befinden, die sich unaufhaltsam und immer schneller weiter drehen wird. Natürlich möchte ich nicht, dass Menschen Übergriffe und Vergewaltigung erleiden müssen, ohne dass es für die Täter_innen Konsequenzen hat. Aber ich möchte auch nicht, dass Menschen aufgrund ihres ausländischen Aussehens für gefährlich gehalten und deswegen diskriminiert und angegriffen werden.

Wir sollten aufpassen, was Köln mit uns macht.

*Ja, ich benutze diesen Begriff. Deal with it.

Sie schreien auf

Sexismus ist ja schon seit längerem ein Thema. Nicht erst seit der Diskussion um die Frauenquote, nicht erst seit dem Vergewaltigungsfall in Indien und auch nicht erst seit dem eine Journalistin den Spitzenkandidaten einer Partei der sexuellen Belästigung bezichtigte.

Letzte Nacht begannen Frauen auf Twitter unter dem Hashtag #aufschrei ihre persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse mit Sexismus, Belästigung und nicht zuletzt auch Übergriffen anzuprangern.

Als ich die Anfänge mitbekam, befürchtete ich, dass es ausufern könnte und man um die schlimmsten und krassesten Erlebnisse wetteifern würde, was glücklicherweise nicht der Fall war.

Die meisten Tweets interpretiere ich tatsächlich als einen Aufschrei, der wachrütteln und sagen will: „Seht her, die Probleme, die ihr ignoriert, leugnet und verharmlost – Sie sind echt! Sie sind wahr! Sie sind da!“

Bis in den späten Vormittag wurde darüber getwittert und es kamen immer mehr Frauen dazu. Das Feedback im Großen und Ganzen war positiv, die Chancen stehen gut, dass sich die Öffentlichkeit weiter mit dem Thema auseinandersetzt.

Natürlich gesellten sich auch kritische Stimmen dazu, die diese Aktion hinterfragten. Zurecht.

Selbst wenn wir die ganze nächste Woche unsere unschönen Erlebnisse twittern, so bewirkt dies alles nichts, wenn weder Mann noch Frau seine Grenzen im Alltag wahrnimmt. Man nimmt lediglich eine Opferrolle ein.

Frauen und auch Männer müssen lernen, Sexismus zu erkennen und (sofern möglich) sich dagegen wehren. Letzteres gestaltet sich natürlich schwierig, wenn man jemanden zahlenmäßig und körperlich unterlegen ist, man darf sich auch nicht unnötig in Gefahr begeben. Aber gerade im beruflichen wie privaten Umfeld, hat man die Möglichkeit aufzuklären und zu sensibilisieren, auch um den Preis, dass man als humorlos, hysterisch oder zumindest bei den Männern, als Weichei gilt.

Man vergisst nämlich gerne, dass nicht nur Frauen von dem Problem betroffen sind. Noch immer ist es für Frauen selbstverständlich, Handwerkliches und körperlich Anstrengendes lieber einem Mann zu überlassen, dass Männer grundsätzlich die Rechnung im Restaurant oder an der Kinokasse übernehmen und nicht zuletzt haben nicht wenige Mütter Bedenken, ob ein Mann für den Beruf des Kindergärtners geeignet wäre. Genauso gibt es genügend Frauen, die mit ihren Reizen und dem Beschützerinstinkt der Männer spielen, um an ihr Ziel zu kommen.

Männer haben aber gleichzeitig ein Problem mit ihren Geschlechtsgenossen, es ist scheinbar völlig normal als weniger männlich (und somit weniger wert) zu gelten, wenn Mann keinen Fußball mag, Mann weniger verdient als die Lebenspartnerin, Mann etwas sensibler ist und nicht zuletzt Mann eben schwul ist.

Hier sind wir auch schon bei der nächsten Gruppe, die von Sexismus betroffen ist: den Homosexuellen und zwar egal ob Männlich oder Weiblich. Schwule sind keine richtigen Männer, tragen gerne Kleider und zicken gerne rum, wie verkappte Diven. Warum sonst stellt es ein Problem dar, wenn homosexuelle Männer professionell Fußball spielen?
Genauso tragen Lesben kurze Haare und müssten nur von einem richtigen Mann „bekehrt“ werden, mal abgesehen davon, dass man nur durch schlechte Erfahrungen mit Männern „umgedreht“ wird.

Sexismus ist weitreichender, als es auf den ersten Blick scheint. Er trifft nicht nur Frauen und er geht auch nicht nur Feministinnen etwas an. Er betrifft uns alle. Und es wird sich nichts ändern, wenn wir uns nicht mit dem Problem auseinandersetzen und es relativieren.

Es geht darum, dass sich jeder Mensch frei entfalten kann, die selben Chancen im Leben bekommt und das wir alle friedlich miteinander auskommen.

Edit:
Anbei noch ein paar Lesetipps:
Zwischen Arschklaps und Aufschrei
Aufschrei und dann Stille
Brüderle im Geiste